Restauration: Das alte Europa als Phönix aus der Asche?

Restauration: Das alte Europa als Phönix aus der Asche?
Restauration: Das alte Europa als Phönix aus der Asche?
 
Durch die Französische Revolution und Napoleon war die europäische Staatenwelt gewaltig in Bewegung geraten. Mehr als die verschiedenartigen territorialen Gebietsaufteilungen hatten der neue Geist der Freiheit und der allgemeine Wille zur Veränderung die Menschen beeindruckt, sie aber gleichzeitig vor dem stets ungewissen Ausgang des Umstrukturierungsprozesses in Furcht, Angst und schließlich in offene Ablehnung versetzt. Die universell begründete französische Freiheitsmission, die den europäischen Regierungen viel Verdruss bereitet hatte, weil sie vorgab, den Völkern Europas mit Waffengewalt die Freiheit zu bringen, hatte sich von Valmy bis Waterloo in weniger als 23 Jahren nicht nur erschöpft, sie war vor allem an ihren eigenen inneren Widersprüchen gescheitert. Als der »korsische Usurpator« im Sommer 1815 Frankreich verließ, um auf die Atlantikinsel Sankt Helena in die Verbannung zu gehen, war allen klar, dass es kein geeintes, von Frankreich beherrschtes Europa geben würde. Die meisten Franzosen waren der kräftezehrenden Feldzüge und permanenten Kriege müde. Die königlichen Souveräne und Minister der europäischen Allianz wiederum waren von dem einzigen Gedanken beherrscht, unter allen Umständen die Wiederkehr französischer Hegemonie zu verhindern. Auf die durch Revolution und Empire markierte epochale Wendezeit, die den Weg zu einer modernen europäischen Staatengemeinschaft wies und die in ideell-materieller Hinsicht als Grundlage für das »lange« 19. Jahrhundert diente, folgte jedoch zunächst die Zeit der Restauration.
 
 Der Wiener Kongress (1814/15)
 
Napoleon I. hatte die Abdankungsurkunde in Fontainebleau noch nicht unterzeichnet, da schlossen die alliierten Mächte am 4. März 1814 im Vertrag von Chaumont eine auf zwanzig Jahre befristete Allianz ab, die in erster Linie militärische Absprachen enthielt. Während der entmachtete Franzosenkaiser den Weg ins Exil auf die Insel Elba antrat, hielt sich vom 3. Oktober 1814 bis zum 9. Juni 1815 in der Donaumetropole Wien alles auf, was in Europa Rang, Namen und Einfluss hatte, und es herrschte ausgelassene Feststimmung. Jedoch beschränkte sich der Wiener Kongress nicht vorzugsweise auf fürstlichen Ballzauber, wie es namhafte zeitgenössische Beobachter kritisch vermerkten (»Der Kongress tanzt wohl, aber geht nicht«), sondern er stellte die Weichen für die zukünftige politische Neuordnung Europas, die in der gleichsam weltlichen wie religiösen Umschreibung der »Heiligen Allianz« eine mehr absichtsvolle als praktische politische Bedeutung erhalten hat. Der Wiener Kongress zählt neben dem Westfälischen Frieden 1648 und den Pariser Friedenskonferenzen 1919 aufgrund seines unverwechselbaren Gepräges zu den großen Friedenskongressen der europäischen Neuzeit. Mit Ausnahme des britischen Königs Georg III. und des französischen Königs Ludwig XVIII. führten die einzelnen Herrscher, tatkräftig unterstützt von ihren wichtigsten Ministern, selbst die Verhandlungen.
 
Auf Drängen des österreichischen und des britischen Außenministers, Klemens Wenzel Fürst von Metternich und Robert Stewart, Viscount Castlereagh, blieb die Aufteilung Europas in Sieger und Besiegte aus. Trotz Niederlage durfte Frankreich in den Grenzen von 1792 verbleiben und erreichte zugleich, dank einer taktischen Meisterleistung seines Verhandlungsführers Charles Maurice de Talleyrand, die Rückgabe seiner Kolonien und Handelsniederlassungen in Übersee (1. Pariser Frieden vom 30. Mai 1814). Wurde damit nachträglich die Französische Revolution und deren Außenpolitik bis zum Sturz der Monarchie diplomatisch anerkannt, so sanktionierte die ratifizierte Neuordnung Deutschlands sogar die von Napoleon geschaffenen Strukturen: Es wurde weder die Auflösung der Rheinbundstaaten beschlossen, wie es der preußische Minister Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein gefordert hatte, noch gab es ein Zurück zum Alten Reich. Vielmehr einigten sich die europäischen Staatsmänner darauf, die territorialen Veränderungen von 1803 anzuerkennen. Metternich gelang es, die besonderen Erfordernisse der Donaumonarchie mit den historischen Traditionen der internationalen Ordnung und der deutschen Staaten- welt in Übereinstimmung zu bringen: Sicherheit und Legitimität der Verträge hatten oberste Priorität, nicht Freiheit und Lebensbedürfnisse der Völker. Die Wiederherstellung der »legitimen Ordnung« und das Gleichgewicht der Mächte standen auf der Tagesordnung.
 
Erst nach dem politischen Zwischenspiel der »Hundert Tage« Napoleons, das mit der Niederlage bei Waterloo beendet war, musste Frankreich staatliche und territoriale Einbußen hinnehmen. Es verlor die vor 1792 eroberten Grenzgebiete (Nizza, Savoyen, Landau und das Saargebiet) und musste der Rückkehr der Bourbonen ebenso zustimmen wie der alliierten Besatzung und der Zahlung hoher Kriegskontributionen. Im 2. Pariser Frieden vom 20. November 1815 wurde Frankreich dafür bestraft, dass es Napoleon nach seiner Flucht von der Insel Elba mit offenen Armen empfangen hatte. Doch war es dem diplomatisch versierten Talleyrand bereits Anfang Januar 1815 gelungen, einen Keil zwischen die Verbündeten zu schlagen, indem er ein geheimes Bündnis mit Großbritannien und Österreich eingegangen war, um preußische und russische Expansionsgelüste einzugrenzen. Nach Ableistung der alliierten Auflagen kehrte Frankreich drei Jahre nach Waterloo auf dem Aachener Kongress 1818 in das Konzert der europäischen Großmächte zurück.
 
 Das Konzert der europäischen Mächte
 
Auf Betreiben des Zaren Alexander I. wurde am 26. September 1815 »im Namen der heiligen und unteilbaren Dreieinigkeit« zwischen dem russisch-orthodoxen Zaren, dem katholischen Kaiser von Österreich, Franz I., und dem protestantischen König von Preußen, Friedrich Wilhelm III., die Heilige Allianz unterzeichnet. In ihr kamen die Monarchen der drei Länder überein, sich in christlicher Brüderlicheit »als Landsleute« anzusehen, »als Glieder der einen christlichen Nation« zu betrachten und sich »bei jeder Gelegenheit Hilfe und Beistand« zu leisten, wie es in der Gründungsurkunde heißt. Später traten Frankreich und Spanien dem Bündnis bei. Die religiös-humanitäre, gefühlsbetonte Verschwommenheit des Dokuments war dagegen für Großbritannien ein Grund, der Allianz fernzubleiben. Zwar diente das Bündnisversprechen bis zum Krimkrieg (1853/54—56) als verbindliche Richtschnur für eine gemeinsame Interventionspolitik der europäischen Großmächte gegenüber aufbegehrenden Kleinstaaten und nach nationaler Selbstbestimmung drängenden Völkern, aber es hat insgesamt politisch nie eine große Rolle gespielt. Stattdessen wurde die Heilige Allianz zum Inbegriff für polizeistaatliche Willkür und Unterdrückung liberalen Gedankenguts (Karlsbader Beschlüsse, 1819) und nationaler Hoffnungen im Rahmen der emanzipatorischen Nationalbewegungen in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der österreichische Staatskanzler Metternich als oberster Repräsentant der neuen Ordnungs- und Staatsvorstellungen sah in erster Linie im Erhalt des Status quo das System des europäischen Gleichgewichts gewahrt, sodass man die Gründungsakte der Heiligen Allianz auch als »Manifest der europäischen Restauration« bezeichnen kann.
 
Die Garantie für die bestehenden Verhältnisse in Europa stand demnach 1815 im Vordergrund. Abgesehen von den verbliebenen vier freien Städten Bremen, Hamburg, Lübeck und Frankfurt am Main und der Helvetischen Konföderation waren die anderen Staaten allesamt Monarchien. Die Gefahr drohte daher nicht von den Republikanern, sondern von den Liberalen, die vom Willen der Nation oder des Volkes redeten oder versuchten, die Macht des jeweiligen Herrschers einzuschränken. Zur Abwehr derartiger Ansprüche wie auch aus Gründen der Stabilitätssicherung nach einer Phase des Umbruchs dienten die neu definierten Prinzipien von Legitimität und Gleichgewicht.
 
Legitimität im Sinne der Heiligen Allianz bedeutete, dass den rechtmäßigen Herrschern ihre verlorenen Titel und Gebiete zurückgegeben werden mussten. Dagegen hatten die von Frankreich installierten Republiken, die Besitztümer der ehemaligen Kirchenfürsten sowie die freien Reichsstädte keinen Restitutionsanspruch. Ihr territorialer Bestand wurde nach dem Gesichtspunkt des Gleichgewichts neu verteilt. Nach der Wiederherstellung der alten Dynastien in Spanien und Portugal wurden 1815 die Niederlande mit Belgien zum Königreich vereint. In der Toskana und in Modena wurden die habsburgischen Seitenlinien wieder eingesetzt. Für die von Napoleon erzwungene Heirat erhielt die ehemalige französische Kaiserin Marie Louise das Großherzogtum Parma als Entschädigung. Die konservative Staatenrestauration beschränkte sich auf die Wiederherstellung alter Grenzen und die Rückführung der gewaltsam vertriebenen Dynastien. Die europäischen Restaurateure beabsichtigten ursprünglich nicht die Wiederkehr absolutistischer Regime, sondern versuchten nach Möglichkeit, Repräsentativverfassungen zu installieren wie beispielsweise die von Zar Alexander I. vorgeschlagene Charte constitutionnelle 1814 in Frankreich. Mithilfe des neuen Legitimitätsbegriffes sollten das monarchische Erbrecht der bonapartistischen Usurpation vorgezogen sowie die Belange der Öffentlichkeit stärker berücksichtigt werden. Damit kam man den in den Befreiungskriegen gegen Napoleon erwachten nationalen Gefühlen entgegen.
 
Zwar erzielten die europäischen Monarchen auf dem Wiener Kongress grundsätzlich Einigkeit über das Ziel der Restauration, aber die politische Praxis sah anders aus. Friedrich von Gentz, der »Sekretär des Kongresses« und zugleich die rechte Hand des »Friedenskutschers« Metternich, brachte den Sachverhalt auf den Punkt. Die Absicht des Kongresses, so seine Diagnose, sei »die Aufteilung der dem Besiegten entrissenen Beute zwischen den Siegern« gewesen. Mit Ausnahme Großbritanniens, das keine territorialen Ambitionen auf dem europäischen Festland verfolgte, dafür aber umso stärker an der Aufrechterhaltung seiner Gleichgewichtspolitik interessiert war, bedienten sich alle anderen Siegernationen aus der napoleonischen Konkursmasse. Russland dehnte sich hemmungslos auf Kosten Polens aus, Österreich streckte seine Hand nach Venetien und der Lombardei aus, und Preußen schlug im Austausch gegen einen Teil Sachsens einen Großteil des Rheinlands und Westfalens für sich heraus. Damit wurde Preußen, dessen Staatsterritorium sich nun von Aachen bis Königsberg erstreckte, zu einem Nachbarn Frankreichs. Es machte sich fortan zur Aufgabe, die »Wacht am Rhein« zu übernehmen, so wie das neu errichtete Königreich der Niederlande seinerseits die »Wacht an der Maas« übernahm. Zu gleicher Zeit sprach Lord Castlereagh von einem »Commonwealth of Europe« und meinte damit die Idee einer allgemeinen Solidarität zwischen den Großmächten. Erst später sollte sich herausstellen, dass das Gleichgewicht der Kräfte eine nachhaltige Verschiebung erfahren hatte.
 
Von »Deutschland« war bei alledem nicht die Rede. Von Napoleon mehrfach besiegt und zutiefst gedemütigt, gingen die beiden großen Vertreter Preußen und Österreich nach 1815 unterschiedliche Wege. Preußen wuchs aufgrund seiner territorialen Westexpansion ins ehemalige Alte Reich hinein, während Österreich über sein italienisches Engagement und als Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn eher hinausdrängte. Als am 8. Juni 1815 in Frankfurt am Main durch die Bevollmächtigten der deutschen Könige, Fürsten und Städte die »Deutsche Bundesakte« unterzeichnet wurde, übernahm Österreich zwar den Vorsitz, aber Metternichs Interesse galt mehr der Verhinderung eines nationalstaatlichen Zusammenschlusses Deutschlands als seiner substanziellen Beförderung. Der »Deutsche Bund« knüpfte an die staatenbündische Tradition an und sollte analog zum Gleichgewichtssystem in der habsburgischen Doppelmonarchie das Gleichgewicht der deutschen Einzelstaaten garantieren.
 
Auf dem Kongress zu Aachen 1818 beschlossen die europäischen Siegermächte, die alliierte Besatzung in Frankreich aufzuheben und die ehemalige Hegemonialmacht in das »Konzert der Verbündeten« aufzunehmen. Dieser Quadrupelallianz (Russland, Preußen, Österreich, Frankreich) gehörten nur Großmächte an, während zweitrangige und zudem absolutistisch regierte Länder wie Spanien außen vor blieben. Es galt nun, die durch Verträge und multilaterale Abmachungen entstandene Situation im Sinne des Legitimitätsprinzips zu konsolidieren.
 
Allein in den süddeutschen Staaten setzten sich die in napoleonischer Zeit eingeleiteten liberalen Reformen durch. Sowohl in den beiden Königreichen Bayern und Württemberg als auch im Großherzogtum Baden traten 1818 Verfassungen in Kraft, die, mit dem Zweikammersystem und einem fortschrittlichen Wahlgesetz ausgestattet, vorbildlich für den deutschen Frühkonstitutionalismus waren. Das Konzert der europäischen Mächte, auf Kongressen, Konferenzen und Begegnungen im Laufe des 19. Jahrhunderts stets neu beschworen und aktualisiert, hielt bis 1914 am Prinzip des Gleichgewichts fest und garantierte Europa, von einzelnen regionalen Konflikten abgesehen, die längste Friedensphase seiner Geschichte.
 
 Die Restaurationszeit in Frankreich (1814/15—1830)
 
Der Beginn der Restauration unter Ludwig XVIII.
 
Nach der Landung in Fréjus am 1. März 1815 war der geflohene Kaiser Napoleon I. auf seinem Triumphzug in Lyon mit den Rufen »Es lebe der Kaiser! Nieder mit den Aristokraten! Nieder mit den Priestern! Tod den Royalisten!« empfangen worden. Dem zunächst aus dem Londoner, dann nach dem napoleonischen Intervall der »Hundert Tage« aus dem Genter Exil zurückgekehrten Bourbonenkönig Ludwig XVIII. wurden derartige Loyalitätsbekundungen in Frankreich nie zuteil. Die legitimen Nachfolger des alten französischen Könighauses waren aufgrund ihres ungeschickten, konspirativen Verhaltens während der letzten zwanzig Jahre beim Volk wenig beliebt und besaßen, abgesehen von einer kleinen Gruppe royalistischer Anhänger, keine soziale und politische Verankerung. Während der »Hundert Tage« verhielt sich die politisch tonangebende Klasse des Bürgertums zunächst abwartend, aber nach der zweiten und damit endgültigen Abdankung Napoleons am 22. Juni 1815 musste sie einsehen, dass die allgemeine Atmosphäre gegen eine Wiederholung des Staatsstreichs vom 18. Brumaire sprach. Die innenpolitische Situation sowie das Diktat der Sieger von Waterloo ermöglichte indes die zweite Rückkehr der Bourbonen.
 
Selbstzufrieden in göttlich sanktioniertem Egoismus, sah sich Ludwig XVIII., als er 1814 nach Paris zurückkehrte, im 19. Jahr seiner Regierung, als ob es weder eine Revolution noch ein Empire gegeben hätte. 1814/15 kehrten jedoch nicht die Minister Ludwigs XVI. nach Frankreich zurück, sondern die Emigranten, die wie die Könige der Restauration — gemeint sind Ludwig XVIII. und sein Bruder, der spätere König Karl X. — die Häupter der Gegenrevolution waren. Ihr Programm war das der aristokratischen Revolte gewesen, der Notabelnversammlung und der königlichen Sitzung des Jahres 1789.
 
Doch zunächst zeigte der König Versöhnungswillen, indem er eine breite Amnestie erließ und am 4. Juni 1814 in feierlicher Sitzung die Charte constitutionnelle, eine halbliberale Verfassung, verkündete. Darin wurden die wesentlichen Ergebnisse der Revolution und des Kaiserreichs wie der Verkauf der Nationalgüter, die Justiz- und Verwaltungsordnung, die Nobilitierungen, Pensionen, Renten und Ehrenzeichen des Kaisers anerkannt. Ebenso behielt der Code Napoléon Gültigkeit. Damit sollte die administrative und gesellschaftliche Struktur, die Napoleon Frankreich gegeben hatte, erhalten bleiben. Dennoch zeigten sich alsbald die fundamentalen Widersprüche der Restaurationszeit: Den pseudoklassischen Säulen des napoleonischen Systems wurden die pseudogotischen Bestandteile einer aristokratischen Reaktion aufgesetzt. Die neue Staatsform war eine repräsentative, aber keine parlamentarische Monarchie. Der König verkörperte die Exekutivgewalt und verfügte über die Initiative in der Gesetzgebung. Ihm und den Ministern gegenüber standen zwei Kammern, die Deputiertenkammer (Chambre des députés) mit Beratungs- und Abstimmungsrecht über die Gesetze und Steuern und die Pairskammer (Chambre des pairs), in der die höchsten weltlichen, kirchlichen und militärischen Würdenträger versammelt waren. Die Pairskammer wurde vom König einberufen. Für dieses Oberhaus des neuen Regimes waren das britische Beispiel und die Institutionen des französischen Kaiserreichs (Senat) nicht ohne Einfluss. Die alte Streitfrage der Schaffung einer aus Adligen bestehenden Körperschaft, die 1789 den Adel gespalten hatte, stand 1814 offenbar nicht mehr zur Debatte. Während Ludwig XVIII. an die Verfassung gebunden war, die Gleichheit vor dem Gesetz, individuelle Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit vorsah, blieb er in der Wahl seiner Minister frei.
 
Auch wenn sich die Bourbonenmonarchie mit der Charte constitutionnelle einen politisch liberalen Anstrich gab, so waren die grundlegenden Probleme der Restauration jedoch ihrem Wesen nach im engeren Wortsinn unpolitisch. Ludwig XVIII. wollte nicht der König eines geteilten Volkes sein, wie er in einem Brief an seinen Bruder aus dem Jahre 1817 bekundete: »Sämtliche Anstrengungen meiner Regierung sind auf die Bemühung gerichtet, die beiden Völker, die in Wirklichkeit nur allzu sehr existieren, in ein einziges zu verschmelzen.« Um die »Deux-France« — das alte und das revolutionäre Frankreich — miteinander zu vereinen, akzeptierte der König den Inhalt der Revolution, aber die Symbole und die Sprache des Regimes blieben der Vergangenheit verhaftet: Die Höflinge kehrten zurück, die Selbstdarstellung der Monarchie verwies auf eine enge Verbindung von Thron und Altar, und die Todestage von Ludwig XVI. und Marie Antoinette wurden groß gefeiert.
 
Unglücklicherweise hatten die »Hundert Tage« den Zauber der allgemeinen Versöhnung gebrochen, der 1814 einen Augenblick wirksam zu sein schien. Zudem mussten die Bourbonen die Kosten der Niederlage tragen, die Napoleon verursacht hatte. 1815 sahen die Royalisten im Süden in der Rückkehr Ludwigs XVIII. das Signal für die Restauration. Der »weiße Terror« (terreur blanche) nahm Rache an den Anhängern Napoleons und den Protestanten des Languedoc. Eine feindliche Atmosphäre innenpolitischer Revanche und Einschüchterung verbreitete sich, in deren Verlauf hochrangige Offiziere der Grande Armée hingerichtet (Marschall Michel Ney, General Charles Huchet, Graf von La Bédoyère) oder von royalistischen Aufrührern gelyncht wurden (Marschall Guillaume Marie Anne Brune) sowie zahlreiche Königsmörder den Weg in die Verbannung antreten mussten. Nachdem die Wahlen vom August 1815 eine ultraroyalistische Kammermehrheit zutage gefördert hatten, die chambre introuvable (unfindbare Kammer, das heißt eine im royalistischen Sinne über alle Erwartungen ausgefallene Wahl), und die vorläufige Regierung Talleyrand-Fouché sich daraufhin massiv für die Rechte des Adels und der Kirche engagierte, löste der König die Kammer im Herbst 1816 auf. Die Wähler, überwiegend bürgerlich-adlige Grundbesitzer und liberale Honoratioren, votierten anschließend für eine gemäßigte Mehrheit in der Kammer und entsprachen damit der Stimmung auf dem Land, das Aufstände und soziale Erschütterungen fürchtete und keine Auslandsfeindschaft riskieren wollte. Dieser sozialkonservative Reflex des ländlich-bäuerlichen Milieus einte die verschiedenen Fraktionen in der Abgeordnetenkammer. Die politisch einflussreiche Gruppe der städtischen Bankiers, Großgrundbesitzer und Notabeln sah zwischen Landbesitz und Industrie keinen Gegensatz, sondern erstrebte eine Symbiose. Die Mehrheit der Liberalen engagierte sich, nachdem sich der klerikal-royalistische Gegenterror ausgetobt hatte, für den Wandel ohne Revolution.
 
Die liberale Phase der Restauration
 
Es begann die liberale Phase der Restaurationszeit, die bis zur konservativ-reaktionären Wende im Februar 1820, ausgelöst durch die Ermordung des Herzogs von Berry, des Sohns des späteren Königs Karl X., andauerte. Zum neuen Ministerpräsidenten wurde Armand Emmanuel du Plessis, Herzog von Richelieu, ernannt, der zuvor seine Fähigkeiten als Verwaltungsfachmann in russischen Diensten bewiesen hatte und infolge seiner langen Abwesenheit mit keiner der Parteiungen der Emigration verbündet war. Unter Richelieu erlebte Frankreich eine bemerkenswerte finanzielle Erholung, und mit der Rückkehr in das Konzert der europäischen Mächte auf dem Aachener Kongress 1818 gelang gleichzeitig ein grandioser außenpolitischer Erfolg. Bevor Richelieu im Dezember 1818 der königlichen Günstlingswirtschaft weichen musste, führte er die sechsjährige Wehrpflicht ein, von deren Ableistung sich allerdings die Söhne reicher Eltern loskaufen konnten.
 
Während Richelieu zur Unterstützung seiner Politik in der Mitte, aber auch bei der politischen Rechten nachgesucht hatte, verließ sich sein Nachfolger Élie Herzog von Decazes und von Glücksberg gleichfalls mit der Regierung der Mitte auf die parlamentarische Hilfestellung durch die linke Fraktion. Mit der Erneuerung des politischen Lebens war die des politischen Denkens Hand in Hand gegangen. Haupttheoretiker der Linken war Henri Benjamin Constant de Rebecque, der die Sicherstellung der liberalen Grundsätze nur durch eine parlamentarische Monarchie nach britischem Muster gewährleistet sah und dessen politisches Gedankengut vielleicht eben darum in Frankreich die verdiente Anerkennung nicht erlangen konnte. Die mittlere Linke, die Gruppe der Doktrinäre um Pierre Paul Royer-Collard, Amable Guillaume Prosper Brugière, Baron von Barante und François Guizot, plädierte stattdessen für ein sorgsames Abwägen der Interessen und wollte keine Autorität anerkennen. Die einzige straff organisierte, einheitliche Partei in der Abgeordnetenkammer gehörte der Rechten, den Ultras, an. Diese Fraktion der kompromisslosen Royalisten neigte dem Bruder des Königs, dem Grafen von Artois — dem späteren französischen König Karl X. —, zu und vertrat die unverwässerten Ideen der Gegenrevolution. Ideologische Unterstützung erhielten sie durch die Schriften von Joseph de Maistre, Louis de Bonald und Hugues Félicité Robert de Lamennais.
 
Die Restauration spitzt sich zu
 
Die politische Wirklichkeit der Restaurationszeit war weit unter dem Reich erhabener Theorie angesiedelt. Parteitaktik, Stimmrechtsangleichung und Wahlschwindel bestimmten das politische Leben. Der Tod des Herzogs von Berry, der am 14. Februar 1820 beim Verlassen der Oper von dem politischen Fanatiker Louis Pierre Louvel ermordet worden war, läutete das Ende der Liberalität ein. Die Regierung erließ ein Gesetz zur Verhaftung von Verdächtigen. Ebenso wurden die Pressezensur ausgeweitet und den wohlhabenden Angehörigen der Wählerschaft eine Doppelstimme übertragen. Während die Linke dazu überging, mit revolutionären Bewegungen wie etwa der internationalen Geheimgesellschaft der Carbonari zu kokettieren, bereitete sich die Rechte auf die Machtübernahme vor. Die Krone schuf durch ihre schrittweise Annäherung an Ultraroyalisten und Kirche die Voraussetzung für die Wende. 1821 betrat der Wortführer des Ultraroyalismus, Jean-Baptiste Guillaume Joseph, Graf von Villèle, die politische Bühne.
 
Die Dekrete der Revolution und das napoleonische Konkordat (1801) hatten der katholischen Kirche stark zugesetzt, sie aber nicht vernichtet. Jetzt sah der eifrige Episkopat die Stunde für eine religiöse Erneuerung als gekommen an. Eine von Jesuiten inspirierte Kongregation setzte sich in ganz Frankreich energisch für den Glauben ein. Gleichzeitig bemühte sich die Bewegung der Ultramontanen im Einklang mit dem Papst, die Machtfülle der Bischöfe zu stärken. Hatte Napoleon versucht, die Kirche zum Instrument des Staates zu machen, schien nun die Gefahr gegeben, dass der Staat zum Instrument der Kirche gemacht werden könne. Zunächst wurde das Panthéon von den »heidnischen Überresten« Voltaires und Rousseaus gereinigt und wieder religiösen Zwecken zugeführt. Anschließend wurden die höhere Schulbildung bischöflicher Aufsicht unterstellt, die Leitung der kaiserlichen Universität einem geistlichen Großmeister übertragen sowie die Eliteschule, die École Normale Supérieure, aufgelöst. 1824 schließlich überließ man die Einsetzung sämtlicher Lehrer an den Grundschulen dem französischen Episkopat.
 
Als Karl X. im September 1824 den Thron bestieg und im darauf folgenden Jahr in der Kathedrale von Reims gekrönt wurde, geschah dies mit allem Beiwerk mittelalterlicher Krönungszeremonien auf dem Höhepunkt der religiösen Erneuerung. Zwar ließ die versammelte Menge ihn in alle Ewigkeit hochleben, aber es blieb nicht verborgen, dass der Empfang, der dem König nach der Zeremonie in Paris zuteil wurde, entschieden frostig ausfiel. Die Ewigkeit sollte ganze fünf Jahre dauern! Rationalismus und Antiklerikalismus waren in Frankreich seit der Aufklärung tief verwurzelt, und die Stärke des antiklerikalen Gefühls trat in der wachsenden Feindseligkeit gegenüber Karl X. und seiner Regierung zutage. 1827 schrie das Volk bei der Musterung der Nationalgarde durch den König: »Nieder mit den Jesuiten! Nieder mit den Ministern! Es lebe die Pressefreiheit!« Politisch bereits in die Defensive geraten, löste Karl X. daraufhin die Garde auf.
 
Karl X. hatte die Amtsgeschäfte seinem Ministerpräsidenten Villèle überlassen. Zwischen 1822 und 1827 stellte dieser die Staatsfinanzen auf Grundlagen, die sie bis zur Krise des 20. Jahrhunderts stabil und gesund erhielten. Villèle erreichte dies mit der Einführung eines Budgetsystems und straffer Kontrollen der Regierungsausgaben. Natürlich machte erst die Rückkehr zu friedlichen internationalen Beziehungen die finanzielle Stabilität möglich. Daher wies der Zeitraum zwischen 1815 und 1914, in dem Frankreich in keinen eigentlich großen und lange währenden Krieg eingebunden war, ausgeglichene Budgets auf.
 
Gleichwohl sorgte die staatliche Entschädigung in Höhe von 30 Millionen Francs als finanzielle Wiedergutmachung für die 70000 zurückgekehrten Emigranten im Land selbst für erhebliche Unruhe, die schließlich politischen Widerstand provozierte. Mit der Rücknahme der Revolution im Innern wurde nicht nur ein nationales Tabu verletzt, sie erregte in noch größerem Maße die überwältigende Mehrheit der Besitzenden, die bereits befürchteten, dass sie auf die eine oder andere Weise für ihre Nutznießerrolle bezahlen müssten. Zur besitzbürgerlichen Schicht gehörten bezeichnenderweise alle diejenigen, die den heftigsten Argwohn wegen der in der neuen Regierung wirksamen klerikalen Einflüsse hegten. Der Ausbruch antiklerikaler Propaganda, der sich 1825 ereignete, ist dem fein gesponnenen Taktieren der liberalen Opposition zur Last gelegt worden, die auf solche Weise den Wahlerfolg zu erringen hoffte, der ihr mit legalen Methoden versagt geblieben war. Ebenso wurden sämtliche Maßnahmen zugunsten von Kirche und Religion dem Einfluss der Jesuiten zugeschrieben. Richtig ist vielmehr, dass das Ausmaß der klerikalen Reaktion übertrieben, aber die Stärke antiklerikaler Regungen in Frankreich unterschätzt wurde. Nach der Kammerauflösung und den Neuwahlen im Winter 1827 musste Villèle zurücktreten. Der König ersetzte ihn, nachdem dem Ministerium des gemäßigten Jean-Baptiste Sylvère Gay, Graf von Martignac, nur eine kurze Regierungszeit (1828/29) gegönnt worden war, durch seinen Günstling, den Fürsten Jules Auguste Armand Marie von Polignac. Ohne Gespür für die politischen Realitäten stellte dieser hinter den Kulissen ein Kabinett mit ausgedienten politischen Nullitäten zusammen, die durch einen strikt antiliberalen Kurs den öffentlichen Rückhalt der Opposition innerhalb und außerhalb der Abgeordnetenkammer geradezu bestärkten. Der Sturz des letzten Bourbonenkönigs in der Julirevolution 1830 kam zwar für viele Zeitgenossen überraschend, ergab sich jedoch aus einer Mischung innerer, sich zwangsläufig potenzierender Widersprüchlichkeiten, einer Anhäufung personeller Fehlbesetzungen, einer zunehmenden Polarisierung unter den politischen Eliten Frankreichs sowie einer konservativen Verhärtung.
 
Prof. Dr. Erich Pelzer
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Europa im Vormärz: Um Verfassung und Nation
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
napoleonische Ordnung: Europa im Schatten der »Grande Armée«
 
 
Fehrenbach, Elisabeth: Vom Ancien Régime zum Wiener Kongreß. München 31993.
 
Fischer-Weltgeschichte, Band 26: Das Zeitalter der europäischen Revolution. 1780-1848, herausgegeben von Louis Bergeron u. a. Teilweise aus dem Französischen. Frankfurt am Main 1994.
 Langewiesche, Dieter: Europa zwischen Restauration und Revolution 1815-1849. München 31993.
 
Marianne und Germania 1789-1889. Frankreich und Deutschland. Zwei Welten - eine Revue, Beiträge von Heidemarie Anderlik u. a. Herausgegeben von Marie-Louise von Plessen. Ausstellungskatalog Martin-Gropius-Bau, Berlin. Berlin 1996.

Universal-Lexikon. 2012.

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